Der folgende Text fasst eine Studie zu Jugendsuiziden zusammen.
Falls Sie Suizidgedanken haben oder jemanden kennen, der Suizidgedanken hat, bitte kontaktieren Sie einen Krisendienst:
Telefonseelsorge: 0800 111 0 111, 0800 111 0 222
Nummer gegen Kummer: 116 111 (Kinder und Jugendliche), 0800 111 0 550 (Elterntelefon)
Ein deutsch-kanadisches Forschungsteam hat gezeigt, dass es in Deutschland während der Schulferien weniger Suizide unter Jugendlichen gibt als während der Schulzeit. Umgekehrt nehmen sich mehr Schülerinnen und Schüler das Leben, wenn die Schule wieder beginnt. Dies trifft nicht nur auf die Sommerferien, sondern auf alle Schulferien zu. Jungen und junge Männer sind dabei am stärksten betroffen.
In sozialen Medien werden vor Weihnachten regelmäßig die Kontaktdaten von Krisendiensten gepostet. Weihnachten 2023 war dabei keine Ausnahme. Doch obwohl wir heute mehr als früher über psychische Gesundheit sprechen, wird insbesondere der Suizidprävention, also allen Maßnahmen, die helfen könnten, Suizide zu verhindern, oft keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Es kann unangenehm sein, über Suizid zu sprechen. Vielleicht ist dies der Grund, warum wir als Gesellschaft meist übersehen, dass es während der Weihnachtstage nicht zu einem Anstieg der Suizidzahlen kommt. Im Gegensatz zu Neujahr, wo die Zahl der Suizidversuche und Todesfälle durch Suizid ansteigt. Dennoch gibt es für diesen Tag – oder auch für andere Feiertage – selten ähnliche Hinweise wie an Weihnachten. Ein kanadisch-deutsches Team von Gesundheitsökonom:innen hat Suizidraten unter Kindern und Jugendlichen untersucht und ist bezüglich Ferien- und Feiertagen zu einem deutlichen Ergebnis gelangt.
Weniger Suizide während der Schulferien, mehr Suizide bei Schulbeginn
Vincent Chandler (Université du Québec en Outaouais, Kanada), Dörte Heger und Christiane Wuckel (beide Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Essen) haben die Auswirkungen von Schulferien auf die Suizidzahlen bei Jugendlichen in Deutschland zwischen 2001 und 2015 untersucht. Dabei stellten sie fest, dass während der Schulferien weniger Kinder und Jugendliche im Schulalter durch Suizid verstarben. Umgekehrt nahmen sich mehr junge Menschen das Leben, wenn die Schule wieder begann. Jungen und junge Männer sind dabei stärker gefährdet als Mädchen und junge Frauen, wie der Artikel der Wissenschaftler:innen im Economics of Education Review zeigt. Der Artikel trägt passenderweise den Titel „The perils of returning to school“ – die Risiken des Schulbeginns.
Die föderale Struktur des deutschen Bildungssystems erlaubt viele Rückschlüsse
Ein Anstieg von Suizidzahlen nach den Schulferien wurde bereits in mehreren früheren Studien festgestellt. Diese beschränkten sich jedoch meist auf die Sommerferien. Dies bedeutet, dass wir nicht genau wissen, was der Auslöser für Suizide nach den Sommerferien ist. Ist es tatsächlich das Ende der Ferien und der Beginn eines neuen Schuljahres? Oder ist es das Ende des Sommers, also weniger Tageslicht und weniger Aktivitäten im Freien?
Die deutschen Bundesländer beginnen ihre etwa sechswöchigen Sommerferien nach einem gestaffelten System: 2023 beispielsweise begannen die Ferien in Nordrhein-Westfalen am 22. Juni und die Schule begann wieder am 7. August. Bayrische Kinder und Jugendliche hingegen starteten erst am 31. Juli in die Ferien und kehrten erst am 12. September in die Schulen zurück. Dementsprechend sind keine einheitlichen saisonalen Effekte zu erwarten. Hinzu kommen die ein- bis zweiwöchigen Herbst-, Weihnachts-, Winter-, Oster- und Pfingstferien. Wenn die Rückkehr in die Schule die Zahl der Suizide also tatsächlich erhöht, so sollte dieser Effekt nach allen Ferien beobachtbar sein.
Forscher:innen entnahmen Daten der offiziellen Todesursachenstatistik
Chandler, Heger und Wuckel entnahmen ihre Daten der deutschen Todesursachenstatistik, in der Todesursachen gemäß der internationalen Klassifikation ICD-10 aufgeführt sind. Das Alter der einbezogenen Kinder und Jugendlichen reichte von sechs bis neunzehn Jahren. Als grundlegende Maßeinheit wählten die Forscher die Wahrscheinlichkeit eines Jugendsuizids an einem Tag in einem Bundesland. Kamen beispielsweise am 10. Mai 2007 ein oder mehrere Suizide in Bayern vor, bewerteten sie diesen Tag für Bayern mit dem Wert „1“. Kam es zu keinem Suizid, so wurde der Tag mit „0“ kodiert. Zusätzlich wurden Daten zu den folgenden Aspekten erhoben:
- Geschlecht
- Schulferienart (Herbst, Weihnachten, Winter, Ostern, Pfingsten, Sommer)
- Übergangszeiten (letzte Tage der Ferien oder Schulzeit, erste Tage der Ferien oder Schulzeit)
- Wetter (Sonnenscheindauer und Niederschlagsmenge im fraglichen Monat und Bundesland)
- Wirtschaftliche Faktoren (Arbeitslosenquote im fraglichen Monat und Bundesland)
- Jahr
- Monat
- Wochentag.
Auf diese Weise wurde sichergestellt, dass Schwankungen in der Zahl der Jugendsuizide, die durch Ferien- oder Schulzeit erklärt wurden, in der Realität nicht vollständig durch etwas anderes erklärt werden konnten.
Jugendsuizidrate sinkt am stärksten während der Pfingst-, Herbst- und Sommerferien
Laut Chandler, Heger und Wuckel beträgt die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit, dass es an einem beliebigen Tag in einem bestimmten Bundesland zu einem Jugendsuizid kommt, 3,77 %. Während der Schulferien ist diese Wahrscheinlichkeit geringer. Am auffälligsten ist der Rückgang in den Pfingstferien, wo die Wahrscheinlichkeit um 1,90 Prozentpunkte sinkt, d. h. in den Pfingstferien beträgt sie nicht mehr 3,77 %, sondern 1,87 %. In den Herbstferien liegt sie bei 2,82 %, in den Sommerferien bei 3,11 %. Die Ergebnisse für die Weihnachts-, Winter- und Osterferien folgen demselben Muster: Die Suizidrate sinkt auch in diesen Ferien. Diese Ergebnisse sind hier jedoch nicht signifikant. Dies bedeutet, dass nicht auszuschließen ist, dass dieser Rückgang auf einen Zufall zurückzuführen sind.
Die größte Gefahr geht vom Ferienende und der Rückkehr in die Schule aus
Schulferien kommen nicht plötzlich. Kinder und Jugendliche wissen sehr genau, wann sie beginnen, und ihr Stresspegel sinkt entsprechend. Daher nimmt die Zahl der Jugendsuizide bereits in den letzten beiden Schultagen vor den Ferien ab. Umgekehrt steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich junge Menschen in den letzten beiden Ferientagen das Leben nehmen, um 0,46 Prozentpunkte. Statt den durchschnittlichen 3,77 % liegt die Wahrscheinlichkeit an diesen Tagen also bei 4,23 %. Doch es kommt noch schlimmer: An den ersten beiden Schultagen steigen die Zahlen auf 4,98 %. Verglichen mit der durchschnittlichen Wahrscheinlichkeit von 3,77 % bedeutet dies, dass die Wahrscheinlichkeit von Jugendsuiziden an diesen Tagen um 32 % steigt.
Stress und Leistungsangst machen sich bemerkbar
Was aber macht die Schulzeit so stressig, dass Jugendsuizide außerhalb der Ferien häufiger sind? Wie bei psychischen Problemen im Allgemeinen lassen sich Suizide unter Jugendlichen nicht auf einen einzigen Auslöser zurückführen. Die Forscher:innen vermuten jedoch, dass Stress und Leistungsangst in der Schule eine Rolle spielen. Erwartungen von Eltern und Lehrkräften könnten zu einem hohen Maß an Stress führen. Mobbing mag ein weiterer Faktor sein: In Deutschland geben immerhin 8,6 % der Schüler:innen an, bereits gemobbt worden zu sein.
Jungen und junge Männer haben ein erhöhtes Risiko
Den Daten der Forscher:innen zufolge (persönliche Kommunikation) treten Suizide bei Jungen und jungen Männern häufiger auf als bei Mädchen und jungen Frauen. Folglich ist der Rückgang der Suizidwahrscheinlichkeit während der Ferien bei Schülern etwa viermal so stark ausgeprägt wie bei Schülerinnen. Doch auch der Anstieg während der ersten beiden Schultage ist bei Jungen und jungen Männern stärker: Während die Zahlen bei Schülerinnen um 24,6 % steigen, sind es Schülern 36,5 %. Die Forscher:innen führen mehrere mögliche Gründe dafür an, dass Jungen und junge Männer stärker betroffen zu sein scheinen:
- Schulen lassen männliche Jugendliche möglicherweise mehr im Stich als Mädchen und junge Frauen. In anderen Worten: Das Bildungssystem scheint für Jungen und junge Männer weniger geeignet zu sein.
- Mädchen und junge Frauen verfügen möglicherweise über ein besseres soziales Netz, das ihnen hilft, Stress zu bewältigen.
- Mobbing unter Mädchen findet häufig online statt. Der damit verbundene Stress könnte also auch während der Schulferien anhalten, so dass die Suizidrate mehr oder weniger gleich bleibt.
- Weibliche Jugendliche zeigen statt eines Suizids möglicherweise andere selbstschädigende Verhaltensweisen, wie zum Beispiel Selbstverletzungen oder Essstörungen.
Suizidprävention muss in Schulen dringend thematisiert werden
Die Ergebnisse von Chandler, Heger und Wuckel zeigen, dass wir mehr tun müssen, als Notrufnummern für Weihnachten auszugeben. Schulen und Bildungssysteme insgesamt müssen sich der psychischen Belastungen junger Menschen bewusst werden – zumal einige dieser Probleme in den Schulen selbst entstehen. Die Autor:innen der Studie schlagen beispielsweise die Einführung hybrider Lernformen vor, die bei bestimmten Schüler:innen Stress reduzieren können. Die Ausbildung von Lehrkräften muss sowohl psychische Gesundheit als auch explizit Informationen zur Suizidprävention umfassen.
Wir wissen vielleicht nicht immer, wer gefährdet ist – aber manchmal wissen wir es eben doch. Wir müssen unser Bewusstsein dafür schärfen, dass die ersten Schultage nach den Ferien die gefährlichste Zeit sind, was Suizide unter Jugendlichen betrifft. Nur wenn wir wissen, was vor sich geht, sind wir überhaupt in der Lage, suizidgefährdeten jungen Menschen Unterstützung zu bieten.
Chandler, V., D. Heger & C. Wuckel (2022). The perils of returning to school – New insights into the impact of school holidays on youth suicides. Economics of Education Review 86, 102205.