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Das kann noch nicht weg! Grundschulenglisch und Motivation/Angst hängen zusammen

Englischunterricht in der Grundschule führt nicht nur zu Fortschritten im Spracherwerb. Eine Studie hat nachgewiesen, dass Lernende in Baden-Württemberg größere Leistungsmotivation und ein geringeres Maß an Prüfungsangst zeigten, je länger ihr Englischunterricht in der Grundschule dauerte.

Um es vorwegzunehmen: Wir sind uns vermutlich alle einig, dass das deutsche Bildungssystem große Probleme hat. Mehr als 30 % der Neuntklässler*innen entwickeln keine ausreichende Lesekompetenz. Ebenso erreichen mehr als 30 % der Grundschüler*innen keine akzeptablen Rechtschreibstandards. Die Situation ist katastrophal. Doch wie kann Abhilfe geschaffen werden?

Ein Vorschlag, der immer wieder gemacht wird, ist die Verstärkung des Rechtschreibunterrichts in der Primarstufe. Wer könnte dem widersprechen? Ein weiterer Vorschlag betrifft den Englischunterricht in der Grundschule. Die Meinungen sind hier weniger eindeutig und reichen von „verstärken“ bis „ganz abschaffen“.

Je mehr Grundschulenglisch, desto größer die Motivation und desto geringer die Prüfungsangst

Zugegebenermaßen ist oft beklagt worden, dass der Englischunterricht in der Grundschule zu fragwürdigen Ergebnissen führt. Kinder lernen jedoch mehr als nur eine Fremdsprache: Eine Studie, die im International Journal of Bilingual Education and Bilingualism veröffentlicht wurde (übrigens meine eigene), zeigt, dass der Englischunterricht in der Grundschule mehr als sechs Jahre später mit einem höheren Maß an Motivation und einem geringeren Maß an Prüfungsangst verbunden ist.

Die Daten, auf denen die Studie basiert, stammen aus Baden-Württemberg. Zum Zeitpunkt der Datenerhebung besuchten die Studienteilnehmer*innen die Jahrgangsstufe 11, hatten also noch ein Schuljahr bis zum Abitur vor sich. Als diese Schüler*innen die Grundschule besuchten, war der Englischunterricht noch nicht in allen Grundschulen des Landes eingeführt. Die Mehrheit der Teilnehmer*innen (228 Schüler*innen) hatte während ihrer Grundschulzeit überhaupt keinen Englischunterricht gehabt, während andere entweder zwei (116 Schüler*innen) oder vier Jahre lang (71 Schüler*innen) am Englischunterricht der Grundschule teilgenommen hatten.

Die Daten zu Motivation, Angst und verbaler Intelligenz stammen aus einem Projekt zur Entwicklung von Schreibfertigkeiten im Zusammenhang mit verschiedenen Bildungszweigen, Lerner*innenbiografien und Unterschieden bezüglich Motivation, Angst und kognitiven Fähigkeiten.

FLM 7-13: Ein Fragebogen zur Erhebung von Motivation und Angst bei Jugendlichen

Motivation und Angst wurden mit dem Fragebogen zur Leistungsmotivation für Schüler der 7. bis 13. Klasse, FLM 7-13, gemessen. Dieser Fragebogen umfasst die folgenden fünf Teilaspekte:

  • Leistungsstreben: Diese Skala verbindet Hoffnung auf Erfolg mit dem Wunsch, eigene Kompetenzen zu erweitern.
  • Ausdauer und Fleiß: Hier wird Hoffnung auf Erfolg mit Informationen zu Selbstkontrolle und Selbstdisziplin verbunden.
  • Aktivierende Prüfungsangst: Aktivierende Prüfungsangst beschreibt eine positive Emotion in Verbindung mit Eifer und Risikobereitschaft in Prüfungssituationen.
  • Hemmende Prüfungsangst: Diese Skala beschreibt den lähmenden Aspekt von Angst, d. h. eine passive Versagensangst.
  • Angst vor Erfolg: Angst vor Erfolg kann realen Erfolg verhindern. Sie beruht auf der Überzeugung, dass Erfolg negative Folgen, zum Beispiel soziale Ablehnung, nach sich ziehen wird.

Im Zusammenhang mit dem Englischunterricht in der Grundschule erwiesen sich drei dieser Aspekte als relevant für die langfristige Entwicklung: Leistungsstreben, Ausdauer und Fleiß sowie hemmende Prüfungsangst (s. Abbildung 1).

Das Säulendiagramm zeigt drei Gruppen von Lerner*innen: Kein Grundschulenglisch, zwei Jahre und vier Jahre Grundschulenglisch. Die Werte zeigen mehr Leistungsstreben sowie Ausdauer und Fleiß und weniger hemmende Prüfungsangst je länger Schüler*innen am Englischunterricht der Grundschule teilgenommen hatten.
Abbildung 1: Grundschulenglisch und Motivation/Angst hängen zusammen

Je mehr Grundschulenglisch, desto mehr Leistungsstreben

Von den drei Schülergruppen wiesen diejenigen, die vier Jahre lang am Englischunterricht der Grundschule teilgenommen hatten, mehr als sechs Jahre später das höchste Niveau an Leistungsstreben auf. Schüler*innen ohne Englischunterricht in der Grundschule erreichten die niedrigsten Werte, die Gruppe mit zwei Jahren Grundschulenglisch lag zwischen den beiden anderen.

Diese Tendenz war bei den folgenden, von den Schüler*innen beantworteten Fragen besonders auffällig und statistisch signifikant:

  • In der Schule möchte ich zu den Besten gehören.
  • Ich bemühe mich darum, mehr zu leisten als die meisten anderen.

Je mehr Grundschulenglisch, desto mehr Ausdauer und Fleiß

Ähnlich verhielt es sich bei Ausdauer und Fleiß: Je länger die Schüler*innen am Englischunterricht der Grundschule teilgenommen hatten, desto höhere Werte erreichten sie. Besonders ausgeprägt war diese Tendenz bei den Reaktionen auf die Aussage „Wenn mir eine Aufgabe nicht gleich gelingt, versuche ich alles, um doch noch eine Lösung zu finden.”

Je mehr Grundschulenglisch, desto weniger hemmende Prüfungsangst

Ein umgekehrter Trend ergab sich hinsichtlich der hemmenden Prüfungsangst: Je länger die Schüler*innen am Englischunterricht teilgenommen hatten, desto weniger waren sie sechs Jahre später durch Prüfungsangst eingeschränkt.

Dieser Trend wurde in den Antworten der Schüler*innen auf die folgenden Aussagen besonders deutlich:

  • Wenn ich eine schwierige Aufgabe lösen muss, habe ich Angst, dabei zu versagen.
  • Am Unterricht beteilige ich mich nur dann, wenn ich mir bei meiner Antwort ganz sicher bin.

PSB-R 6-13: Ein Begabungstest für Jugendliche

Kognitive Fähigkeiten wurden mit dem Prüfsystem für Schul- und Bildungsberatung für 6. bis 13. Klassen (PSB-R 6-13) gemessen. Dieser Test umfasst verbale Intelligenz, abstrakt-logisches Denken und Konzentration. Verbale Intelligenz wiederum besteht in diesem Test aus Untertests zu Worterkennung/Allgemeinbildung, Wortflüssigkeit und sprachlogischem Denken.

Frühes Grundschulenglisch hängt mit schlechterer Worterkennung auf Deutsch zusammen

Lediglich der Untertest zu Worterkennung/Allgemeinbildung erwies sich als relevant im Zusammenhang mit dem Englischunterricht in der Grundschule (s. Abbildung 2). Der Test besteht aus fünf Einzelaufgaben mit einer themenbezogenen Überschrift und einer Liste von jeweils zwanzig Wörtern. Jedes der vorgegebenen Wörter enthält einen Rechtschreibfehler. Die Schüler*innen müssen also das jeweilige Wort erkennen, das zu der vorgegebenen Überschrift passt, und den Fehler markieren. Die Gruppe, die vier Jahre lang am Englischunterricht in der Grundschule teilgenommen hatte, erkannte deutlich weniger Wörter als die anderen beiden Gruppen. In anderen Worten: Der Beginn des Englischunterrichts in der 1. Klasse kann mehr als sechs Jahre später die Fähigkeit der Lernenden beeinträchtigen, Wörter im Deutschen richtig zu erkennen.

Das Säulendiagramm zeigt drei Gruppen von Lerner*innen: Kein Grundschulenglisch, zwei Jahre und vier Jahre Grundschulenglisch. Die Werte zeigen geringere Werte für Worterkennung je länger Schüler*innen am Englischunterricht der Grundschule teilgenommen hatten. Die Säulen, die Wortflüssigkeit und sprachlogisches Denken zeigen, sind grau schattiert, da die Unterschiede auf diesen Skalen nicht signifikant waren.
Abbildung 2: Grundschulenglisch und Worterkennung hängen zusammen (Ergebnisse für Wortflüssigkeit und sprachlogisches Denken sind nicht signifikant)

Grundschulenglisch: Das kann noch nicht weg!

Macht es also Sinn, den Englischunterricht in der Grundschule beizubehalten? Auf jeden Fall. Da die Studienteilnehmer*innen keinen Einfluss darauf hatten, wann ihr Englischunterricht begann, ist davon auszugehen, dass die Ergebnisse bezüglich Motivation und Prüfungsangst nicht auf bestimmten Auswahlkriterien im Bildungssystem beruhen. Dies spricht dafür, dass Grundschulenglisch die Fähigkeiten von Schüler*innen zur Selbstregulierung positiv beeinflusst. Andererseits kann der frühe Englischunterricht jedoch zu geringeren Lese- und Rechtschreibkompetenzen in deutscher Sprache beitragen.

Entscheidungen sollten in jedem Fall auf der Grundlage von empirischen und nicht anekdotischen Belegen getroffen werden. Eine Verringerung der Anzahl der Englischstunden und der Unterrichtsjahre in der Grundschule kann eine gute Maßnahme sein. Doch die vollständige Abschaffung des frühen Englischunterrichts hieße das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Möller, V. (2018). Promoting bilingualism at the primary and secondary level: the role of intelligence, motivation and anxiety. International Journal of Bilingual Education and Bilingualism. DOI: 10.1080/13670050.2018.1559795

Wenn der Schulbeginn zur Belastung wird: Schulen benötigen nach den Ferien mehr Suizidprävention

Der folgende Text fasst eine Studie zu Jugendsuiziden zusammen.
Falls Sie Suizidgedanken haben oder jemanden kennen, der Suizidgedanken hat, bitte kontaktieren Sie einen Krisendienst:
Telefonseelsorge: 0800 111 0 111, 0800 111 0 222
Nummer gegen Kummer: 116 111 (Kinder und Jugendliche), 0800 111 0 550 (Elterntelefon)

Ein deutsch-kanadisches Forschungsteam hat gezeigt, dass es in Deutschland während der Schulferien weniger Suizide unter Jugendlichen gibt als während der Schulzeit. Umgekehrt nehmen sich mehr Schülerinnen und Schüler das Leben, wenn die Schule wieder beginnt. Dies trifft nicht nur auf die Sommerferien, sondern auf alle Schulferien zu. Jungen und junge Männer sind dabei am stärksten betroffen.

In sozialen Medien werden vor Weihnachten regelmäßig die Kontaktdaten von Krisendiensten gepostet. Weihnachten 2023 war dabei keine Ausnahme. Doch obwohl wir heute mehr als früher über psychische Gesundheit sprechen, wird insbesondere der Suizidprävention, also allen Maßnahmen, die helfen könnten, Suizide zu verhindern, oft keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Es kann unangenehm sein, über Suizid zu sprechen. Vielleicht ist dies der Grund, warum wir als Gesellschaft meist übersehen, dass es während der Weihnachtstage nicht zu einem Anstieg der Suizidzahlen kommt. Im Gegensatz zu Neujahr, wo die Zahl der Suizidversuche und Todesfälle durch Suizid ansteigt. Dennoch gibt es für diesen Tag – oder auch für andere Feiertage – selten ähnliche Hinweise wie an Weihnachten. Ein kanadisch-deutsches Team von Gesundheitsökonom:innen hat Suizidraten unter Kindern und Jugendlichen untersucht und ist bezüglich Ferien- und Feiertagen zu einem deutlichen Ergebnis gelangt.

Weniger Suizide während der Schulferien, mehr Suizide bei Schulbeginn

Vincent Chandler (Université du Québec en Outaouais, Kanada), Dörte Heger und Christiane Wuckel (beide Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Essen) haben die Auswirkungen von Schulferien auf die Suizidzahlen bei Jugendlichen in Deutschland zwischen 2001 und 2015 untersucht. Dabei stellten sie fest, dass während der Schulferien weniger Kinder und Jugendliche im Schulalter durch Suizid verstarben. Umgekehrt nahmen sich mehr junge Menschen das Leben, wenn die Schule wieder begann. Jungen und junge Männer sind dabei stärker gefährdet als Mädchen und junge Frauen, wie der Artikel der Wissenschaftler:innen im Economics of Education Review zeigt. Der Artikel trägt passenderweise den Titel „The perils of returning to school“ – die Risiken des Schulbeginns.

Die föderale Struktur des deutschen Bildungssystems erlaubt viele Rückschlüsse

Ein Anstieg von Suizidzahlen nach den Schulferien wurde bereits in mehreren früheren Studien festgestellt. Diese beschränkten sich jedoch meist auf die Sommerferien. Dies bedeutet, dass wir nicht genau wissen, was der Auslöser für Suizide nach den Sommerferien ist. Ist es tatsächlich das Ende der Ferien und der Beginn eines neuen Schuljahres? Oder ist es das Ende des Sommers, also weniger Tageslicht und weniger Aktivitäten im Freien?

Die deutschen Bundesländer beginnen ihre etwa sechswöchigen Sommerferien nach einem gestaffelten System: 2023 beispielsweise begannen die Ferien in Nordrhein-Westfalen am 22. Juni und die Schule begann wieder am 7. August. Bayrische Kinder und Jugendliche hingegen starteten erst am 31. Juli in die Ferien und kehrten erst am 12. September in die Schulen zurück. Dementsprechend sind keine einheitlichen saisonalen Effekte zu erwarten. Hinzu kommen die ein- bis zweiwöchigen Herbst-, Weihnachts-, Winter-, Oster- und Pfingstferien. Wenn die Rückkehr in die Schule die Zahl der Suizide also tatsächlich erhöht, so sollte dieser Effekt nach allen Ferien beobachtbar sein.

Forscher:innen entnahmen Daten der offiziellen Todesursachenstatistik

Chandler, Heger und Wuckel entnahmen ihre Daten der deutschen Todesursachenstatistik, in der Todesursachen gemäß der internationalen Klassifikation ICD-10 aufgeführt sind. Das Alter der einbezogenen Kinder und Jugendlichen reichte von sechs bis neunzehn Jahren. Als grundlegende Maßeinheit wählten die Forscher die Wahrscheinlichkeit eines Jugendsuizids an einem Tag in einem Bundesland. Kamen beispielsweise am 10. Mai 2007 ein oder mehrere Suizide in Bayern vor, bewerteten sie diesen Tag für Bayern mit dem Wert „1“. Kam es zu keinem Suizid, so wurde der Tag mit „0“ kodiert. Zusätzlich wurden Daten zu den folgenden Aspekten erhoben:

  • Geschlecht
  • Schulferienart (Herbst, Weihnachten, Winter, Ostern, Pfingsten, Sommer)
  • Übergangszeiten (letzte Tage der Ferien oder Schulzeit, erste Tage der Ferien oder Schulzeit)
  • Wetter (Sonnenscheindauer und Niederschlagsmenge im fraglichen Monat und Bundesland)
  • Wirtschaftliche Faktoren (Arbeitslosenquote im fraglichen Monat und Bundesland)
  • Jahr
  • Monat
  • Wochentag.

Auf diese Weise wurde sichergestellt, dass Schwankungen in der Zahl der Jugendsuizide, die durch Ferien- oder Schulzeit erklärt wurden, in der Realität nicht vollständig durch etwas anderes erklärt werden konnten.

Jugendsuizidrate sinkt am stärksten während der Pfingst-, Herbst- und Sommerferien

Laut Chandler, Heger und Wuckel beträgt die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit, dass es an einem beliebigen Tag in einem bestimmten Bundesland zu einem Jugendsuizid kommt, 3,77 %. Während der Schulferien ist diese Wahrscheinlichkeit geringer. Am auffälligsten ist der Rückgang in den Pfingstferien, wo die Wahrscheinlichkeit um 1,90 Prozentpunkte sinkt, d. h. in den Pfingstferien beträgt sie nicht mehr 3,77 %, sondern 1,87 %. In den Herbstferien liegt sie bei 2,82 %, in den Sommerferien bei 3,11 %. Die Ergebnisse für die Weihnachts-, Winter- und Osterferien folgen demselben Muster: Die Suizidrate sinkt auch in diesen Ferien. Diese Ergebnisse sind hier jedoch nicht signifikant. Dies bedeutet, dass nicht auszuschließen ist, dass dieser Rückgang auf einen Zufall zurückzuführen sind.

Das Diagramm stellt das Absinken der Suizidraten in allen Schulferien dar.
Abb. 1: Sinkende Wahrscheinlichkeit von Jugendsuiziden in den verschiedenen Ferien (Ergebnisse für Herbst-, Pfingst- und Sommerferien sind statistisch signifikant)

Die größte Gefahr geht vom Ferienende und der Rückkehr in die Schule aus

Schulferien kommen nicht plötzlich. Kinder und Jugendliche wissen sehr genau, wann sie beginnen, und ihr Stresspegel sinkt entsprechend. Daher nimmt die Zahl der Jugendsuizide bereits in den letzten beiden Schultagen vor den Ferien ab. Umgekehrt steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich junge Menschen in den letzten beiden Ferientagen das Leben nehmen, um 0,46 Prozentpunkte. Statt den durchschnittlichen 3,77 % liegt die Wahrscheinlichkeit an diesen Tagen also bei 4,23 %. Doch es kommt noch schlimmer: An den ersten beiden Schultagen steigen die Zahlen auf 4,98 %. Verglichen mit der durchschnittlichen Wahrscheinlichkeit von 3,77 % bedeutet dies, dass die Wahrscheinlichkeit von Jugendsuiziden an diesen Tagen um 32 % steigt.

Das Diagramm zeigt, dass Suizidraten unter Jugendlichen in den letzten beiden Tagen vor den Ferien und in den Ferien sinken, in den letzten beiden Tagen der Ferien und nach den Ferien jedoch ansteigen.
Abb. 2: Steigende und sinkende Wahrscheinlichkeit von Jugendsuiziden am Anfang und Ende der Schulferien (Ergebnis für die ersten zwei Schultage ist statistisch signifikant)

Stress und Leistungsangst machen sich bemerkbar

Was aber macht die Schulzeit so stressig, dass Jugendsuizide außerhalb der Ferien häufiger sind? Wie bei psychischen Problemen im Allgemeinen lassen sich Suizide unter Jugendlichen nicht auf einen einzigen Auslöser zurückführen. Die Forscher:innen vermuten jedoch, dass Stress und Leistungsangst in der Schule eine Rolle spielen. Erwartungen von Eltern und Lehrkräften könnten zu einem hohen Maß an Stress führen. Mobbing mag ein weiterer Faktor sein: In Deutschland geben immerhin 8,6 % der Schüler:innen an, bereits gemobbt worden zu sein.

Jungen und junge Männer haben ein erhöhtes Risiko

Den Daten der Forscher:innen zufolge (persönliche Kommunikation) treten Suizide bei Jungen und jungen Männern häufiger auf als bei Mädchen und jungen Frauen. Folglich ist der Rückgang der Suizidwahrscheinlichkeit während der Ferien bei Schülern etwa viermal so stark ausgeprägt wie bei Schülerinnen. Doch auch der Anstieg während der ersten beiden Schultage ist bei Jungen und jungen Männern stärker: Während die Zahlen bei Schülerinnen um 24,6 % steigen, sind es Schülern 36,5 %. Die Forscher:innen führen mehrere mögliche Gründe dafür an, dass Jungen und junge Männer stärker betroffen zu sein scheinen:

  • Schulen lassen männliche Jugendliche möglicherweise mehr im Stich als Mädchen und junge Frauen. In anderen Worten: Das Bildungssystem scheint für Jungen und junge Männer weniger geeignet zu sein.
  • Mädchen und junge Frauen verfügen möglicherweise über ein besseres soziales Netz, das ihnen hilft, Stress zu bewältigen.
  • Mobbing unter Mädchen findet häufig online statt. Der damit verbundene Stress könnte also auch während der Schulferien anhalten, so dass die Suizidrate mehr oder weniger gleich bleibt.
  • Weibliche Jugendliche zeigen statt eines Suizids möglicherweise andere selbstschädigende Verhaltensweisen, wie zum Beispiel Selbstverletzungen oder Essstörungen.

Suizidprävention muss in Schulen dringend thematisiert werden

Die Ergebnisse von Chandler, Heger und Wuckel zeigen, dass wir mehr tun müssen, als Notrufnummern für Weihnachten auszugeben. Schulen und Bildungssysteme insgesamt müssen sich der psychischen Belastungen junger Menschen bewusst werden – zumal einige dieser Probleme in den Schulen selbst entstehen. Die Autor:innen der Studie schlagen beispielsweise die Einführung hybrider Lernformen vor, die bei bestimmten Schüler:innen Stress reduzieren können. Die Ausbildung von Lehrkräften muss sowohl psychische Gesundheit als auch explizit Informationen zur Suizidprävention umfassen.

Wir wissen vielleicht nicht immer, wer gefährdet ist – aber manchmal wissen wir es eben doch. Wir müssen unser Bewusstsein dafür schärfen, dass die ersten Schultage nach den Ferien die gefährlichste Zeit sind, was Suizide unter Jugendlichen betrifft. Nur wenn wir wissen, was vor sich geht, sind wir überhaupt in der Lage, suizidgefährdeten jungen Menschen Unterstützung zu bieten.

Chandler, V., D. Heger & C. Wuckel (2022). The perils of returning to school – New insights into the impact of school holidays on youth suicides. Economics of Education Review 86, 102205.