Die Lernapp Prosodiya bietet spielerische Förderung für Schüler:innen mit Lese-/Rechtschreibschwäche, indem sie die Wahrnehmung von Betonungsmustern trainiert. Nach längerer Pause ist Prosodiya nun kostenfrei in den App-Stores verfügbar. Die soeben in der Fachzeitschrift Learning and Instruction beschriebene Förderstudie weist die positive Wirkung der App nach.
Viele, die mit Rechtschreibförderung zu tun haben, hatten sie bereits schmerzlich vermisst: Die bunten Kugellichter der Lernapp Prosodiya, die Schüler:innen der Grundschule und Unterstufe helfen, ihre Rechtschreibprobleme zu überwinden. Im Gegenzug unterstützen die Spielenden die kleinen Kugellichter dabei, ihr Land – Prosodiya – von der Dunkelheit zu befreien, die die Bewohner:innen traurig macht. Doch die App ist nicht nur zurück – sie ist nun sogar kostenfrei in App-Stores verfügbar und bietet damit allen Familien gleichermaßen Zugang zu diesem Förderangebot. Gleichzeitig sind die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchung der App in der Fachzeitschrift Learning and Instruction erschienen.
Prosodiya arbeitet mit Sprachrhythmus und Betonungswahrnehmung
Prosodiya ist ein Lernspiel für Mobilgeräte, das an der Universität Tübingen mit einem Team aus Sprachwissenschaftler:innen, Informatiker:innen und Psycholog:innen entwickelt und wissenschaftlich untersucht wurde. In etwa 100 Leveln fördert die App Rechtschreibung auf der Grundlage von Sprachrhythmus und Betonungswahrnehmung. Dies ist wichtig, denn schwach entwickelte Lese- und Rechtschreibfertigkeiten beruhen häufig auf einer fehlerhaften Wahrnehmung von Betonungsmustern. So muss zum Beispiel beim Wort gewinnen erkannt werden, dass das Wort drei Silben hat (ge-win-nen), von denen die zweite betont ist. Zudem ist der Vokal der zweiten, betonten Silbe kurz. Nur, wenn dies klar ist, kann die zutreffende Rechtschreibregel angewandt werden: Auf den Kurzvokal i folgt ein Doppelkonsonant (nn). Prosodiya ist ohne Unterstützung von Eltern oder Lehrkräften nutzbar: Die Kugellichter selbst erklären die Regeln und üben Aufgabenformen mit den Spielenden ein.
Studie untersucht Wirksamkeit des Trainings und eigenständige Nutzbarkeit der App
Im Mittelpunkt der in Learning and Instruction beschriebenen Studie von Heiko Holz, Manuel Ninaus, Jakob Schwerter, Cora Parrisius, Benedikt Beuttler, Katharina Brandelik und Detmar Meurers stehen drei Fragestellungen:
- Machbarkeit:
Können schon Grundschüler:innen die App eigenständig nutzen? - Wirksamkeit:
Lassen sich durch die Nutzung von Prosodiya Verbesserungen von Lese- und Rechtschreibfertigkeiten erzielen? - Validität:
Bestätigt die Nutzung der App die Annahme, die ihr zugrunde liegt? In anderen Worten: Haben Betonungswahrnehmung und Sprachrhythmus tatsächlich mit Lese- und Rechtschreibfertigkeiten zu tun?
116 Grundschüler:innen nehmen teil
Insgesamt wurden Daten von 116 Zweit- bis Viertklässlern im Alter von 7 bis 11 Jahren ausgewertet. Die Kinder sollten Prosodiya acht bis zehn Wochen lang zu Hause nutzen, fünf Tage pro Woche, etwa 20 Minuten am Tag. Die Lese- und Rechtschreibleistungen der meisten Teilnehmenden waren unterdurchschnittlich, so dass das Training mit Prosodiya auch für die Familien einen Zweck verfolgte, nämlich die Kinder in der Entwicklung ihrer Rechtschreibfertigkeiten zu unterstützen. Alle Teilnehmenden besuchten Schulen im Tübinger Raum und durchliefen außer dem Training mit Prosodiya drei Termine, bei denen ihre Leistungen geprüft wurden. Die Durchführung der Studie folgte dabei dem in Abb. 2 dargestellten Vorgehen:
- Test 1: Lese- und Rechtschreibleistungen aller Teilnehmenden werden vor Beginn der Studie getestet.
- Trainingsphase 1: Die Hälfte der Teilnehmenden (Gruppe 1) trainiert mit Prosodiya, die andere Hälfte (Gruppe 2) hat noch keinen Zugang zur App.
- Test 2: Lese- und Rechtschreibleistungen beider Gruppen werden erneut getestet.
- Trainingsphase 2: Gruppe 2 trainiert nun mit Prosodiya, die andere Hälfte (Gruppe 1) hat keinen Zugang mehr zur App.
- Test 3: Lese- und Rechtschreibleistungen beider Gruppen werden getestet.
Studie setzt auf Lese-/Rechtschreibtests und In-Game-Daten
Bei der Erhebung von Daten setzt die Studie in weiten Teilen auf standardisierte Lese- und Rechtschreibtests, die auch im Bildungssystem und in der außerschulischen Förderung verwendet werden. Hinzu kommen Tests und Fragebögen, die extra für die Studie entwickelt wurden, sowie In-Game-Daten. Letztere bestehen zum Beispiel aus Punktzahlen, die die Spielenden erreicht haben, sowie Zeiten und Wiederholungen, die sie für die Bewältigung der verschiedenen Level benötigten.
- Standardisierte Lese-/Rechtschreibtests: DRT 2/3/4 (Diagnostischer Rechtschreibtest für 2./3./4. Klassen), SLS 2-9 (Salzburger Lese-Screening für die Schulstufen 2-9), SLRT-II (Lese- und Rechtschreibtest)
- Eigens entwickelte Tests und Fragebögen: Rechtschreibtest, Eltern- und Schüler:innen-Fragebögen zur Nutzung von Prosodiya
- In-Game Daten: Erreichte Punktzahlen, benötigte Zeit, benötigte Wiederholungen
Grundschüler:innen können Prosodiya selbstständig nutzen
Die Grundschüler:innen, die an der Studie teilnahmen, taten dies mit einiger Ausdauer, wenn auch nicht strikt nach dem definierten Trainingsplan. Im Durchschnitt …
… trainierten sie in den acht bis zehn Wochen des Trainings 27,9 Tage.
… übten sie 18,5 Minuten am Tag.
… erreichten sie von den etwa 100 Leveln des Spiels das Level 69.
… übten sie inklusive Wiederholungen 161,7 Level.
… benötigten sie 3,0 Minuten für ein Level.
… erreichten sie von den möglichen 150 Punkten pro Level 138,6.
… schafften sie es, 8,2 Aufgaben schon beim ersten Versuch zu lösen.
Den Grundschüler:innen bereitete das Training Spaß: Sie gaben an, dass die App leicht zu nutzen sei. Das Training mit Prosodiya wirkte sich positiv auf das Selbstwirksamkeitserleben der Kinder aus: Sie machten die Erfahrung, dass die Übungen ihnen tatsächlich halfen. Auch von Eltern und Lehrkräften gab es positive Rückmeldungen zum Spiel.
Prosodiya verbessert Rechtschreibleistung
Die wissenschaftliche Untersuchung der Rechtschreibleistungen bestätigt die positiven Erfahrungen, von denen Kinder, Eltern und Lehrkräfte berichten. Im diagnostischen Rechtschreibtest DRT 2/3/4 verbesserten sich zwar alle Lernenden in allen Phasen der Studie – also auch in den Phasen, in denen die jeweilige Gruppe Prosodiya nicht benutzte – jedoch führte das Training mit der Prosodiya-App zu deutlich höheren Lernzuwächsen (vgl. Abb. 3). So verbesserten sich die beiden Gruppen im Trainingszeitraum um mehr als drei bzw. vier T-Wert-Punkte.
Die T-Wert-Skala ist eine Skala, die zur Auswertung standardisierter Tests herangezogen wird: Ihr Mittelwert liegt bei einem T-Wert von 50, eine Standardabweichung beträgt 10. In anderen Worten: Bewegt man sich auf der Skala zehn Punkte vom Mittelwert aus nach links und nach rechts, so hat man den Bereich definiert, der als Durchschnittsbereich gilt. 68,2 % einer Normgruppe – in diesem Fall 68,2 % der Zweit-/Dritt- oder Viertklässler – erreichen Ergebnisse, die im Bereich einer Standardabweichung rechts und links des Mittelwertes liegen. Ein T-Wert zwischen 40 und 60 gilt somit als durchschnittliche Leistung. Vergegenwärtigt man sich diese Skala, so wird die Dimension eines Leistungszuwachses von mehreren T-Wert-Punkten in nur acht bis zehn Wochen deutlich.
Zusätzlich werteten die Wissenschaftler:innen um Heiko Holz diejenigen Aufgaben aus dem standardisierten Tests gesondert aus, die sich auf Vokallängen bezogen, also genau diejenigen Aufgaben, die die engsten Verbindungen zu den Trainingsaufgaben in Prosodiya aufweisen. Auch hier war der Nutzen der App deutlich zu erkennen, wobei die Gruppe, die bereits in Phase 1 mit Prosodiya trainierte, den deutlichsten Gewinn an Kompetenz erzielte. Alle Ergebnisse, die sich auf Daten aus dem standardisierten Test DRT bezogen, waren signifikant, d.h. es ist sehr unwahrscheinlich oder sogar praktisch ausgeschlossen, dass diese Ergebnisse auf Zufällen beruhen. Die Tatsache, dass die Gruppe, die zuerst mit Prosodiya trainierte, in der zweiten Phase der Studie nicht an Kompetenz verlor, spricht dafür, dass das Training eine langfristige, positive Auswirkung auf die Rechtschreibkompetenz hat.
Der eigens für die Studie entwickelte Rechtschreibtest bestätigte die Ergebnisse des standardisierten Tests in weiten Teilen: Auch hier gab es – mit einer Ausnahme – signifikante Unterschiede zwischen der Gruppe, die mit Prosodiya trainiert hatte und derjenigen Gruppe, die dies in der untersuchten Phase der Studie nicht getan hatte.
Prosodiya verbessert die Wahrnehmung betonter und unbetonter Silben
Die Lernenden konnten ihre Wahrnehmung betonter und unbetonter Silben während des Trainings mit Prosodiya ebenfalls deutlich verbessern. In beiden Gruppen gab es in allen Phasen der Studie Lernzuwächse, doch das Training mit der App führte zu deutlich größerer Zunahme der Kompetenz (vgl. Abb. 4). Auch hier war das Ergebnis hochsignifikant. In anderen Worten: Es ist praktisch ausgeschlossen, dass die Unterschiede zwischen den Gruppen auf etwas anderes zurückzuführen sind als auf die Tatsache, dass eine Gruppe mit Prosodiya trainierte und die andere nicht.
Lernzuwachs bei Lesekompetenz nicht nachgewiesen
Nicht nachweisen konnten die Wissenschaftler:innen, dass die Nutzung von Prosodiya auch zu einer Erhöhung der Lesekompetenz führt. Auch hier gab es mit einer Ausnahme in allen Phasen der Studie Lernzuwächse in beiden Gruppen. Diese waren jedoch nicht statistisch signifikant, d.h. die Steigerung der Kompetenz kann nicht zweifelsfrei mit Prosodiya in Verbindung gebracht werden.
Betonungswahrnehmung ist wichtig
Die Grundannahme bei der Entwicklung der App war, dass die korrekte Wahrnehmung betonter und unbetonter Silben die Rechtschreibfertigkeiten beeinflusst, dass also Lernende mit Lese-/Rechtschreibschwäche die Betonung von Silben schlechter wahrnehmen als Schüler:innen, die keine solche Schwäche haben. Aus diesem Grund wurden die Werte der Teilnehmenden bei der Betonungswahrnehmung mit den erhobenen Lese- und Rechtschreibdaten in Beziehung gesetzt. Tatsächlich korrelierten die erzielten Werte bei der Wahrnehmung der Betonung von Silben mit allen Werten der Lese- und Rechtschreibtests. Je höher die Werte bei der Wahrnehmung betonter und unbetonter Silben waren, desto besser waren auch die Ergebnisse in den Rechtschreibtests, aber auch bei Leseflüssigkeit und dem Lesen von Wörtern und Pseudowörtern. Eine negative Korrelation ergab sich mit den Fehlern, die bei der Markierung von Vokallängen gemacht wurden: Je höher der erreichte Wert bei der Wahrnehmung von Silbenbetonung, desto weniger Fehler wurden gemacht. Die Grundannahme, auf der die Entwicklung von Prosodiya beruht, wurde demzufolge bestätigt.
Prosodiya eignet sich zur Förderung und Diagnostik
Ähnliche Korrelationen konnten die Forscher:innen zwischen den Daten aus dem Spiel und den Lese- und Rechtschreibleistungen der Kinder beobachten: Je mehr Punkte die Spielenden erreichten und je weniger Zeit sie dafür benötigten, desto besser schnitten sie in den Lese- und Rechtschreibtests ab. Die Wissenschaftler:innen leiten daraus ab, dass der Ansatz der Prosodiya-App sich für die Förderung von Schüler:innen mit schwachen Lese- und Rechtschreibleistungen eignet. Möglicherweise lässt sich die App sogar diagnostisch nutzen.
Freier Zugang zu allen Leveln für Lehrkräfte und Lerntherapeut:innen
Seit dem Neustart von Prosodiya ist die App kostenfrei in den App-Stores verfügbar. Doch auch ein kostenloser Download würde für Lehrkräfte und Lerntherapeut:innen bedeuten, dass sie das gesamte Training durchlaufen müssten, um einen Einblick in alle Aufgabentypen zu erhalten. Prosodiya bietet daher so genannte „Alles frei“-Profile an, mit denen alle Trainingsaufgaben gesichtet und gespielt werden können, ohne alle vorherigen Aufgaben gelöst zu haben.
Eignet sich Prosodiya auch für Lernende ohne Lese-/Rechtschreibschwäche?
Prosodiya bietet eine interessante, motivierende und lohnenswerte Möglichkeit der Förderung für Kinder mit diagnostizierter Lese-/Rechtschreibschwäche, zumal der Zugang zur App durch das kostenfreie Angebot nun extrem niedrigschwellig ist. Auch Schüler:innen der Unterstufe der weiterführenden Schulen haben Freude am Training mit den Kugellichtern. Interessant wäre eine Untersuchung, die sich auf Lernende mit durchschnittlichen Rechtschreibkompetenzen konzentriert. Ebenso wäre der Einsatz von Prosodiya im Unterricht für Deutsch als Fremdsprache interessant: Gerade bei Lernenden mit Herkunftssprachen, deren Rechtschreibung nicht auf Silbenbetonung beruht, könnte dies die Lernmotivation unterstützen und zu effektiverem Rechtschreibtraining führen.
Holz, H., Ninaus, M., Schwerter, J., Parrisius, C., Beuttler, B., Brandelik, K., & Meurers, D. (2023). A Digital Game-Based Training Improves Spelling in German Primary School Children – A Randomized Controlled Field Trial. Learning and Instruction, 87, 101771.